Im Rahmen der umfassenden baulichen Erneuerung der evangelisch-reformierten Pfarrkirche St. Laurenzen in St. Gallen Mitte des 19. Jahrhunderts wurde 1853 in das Chorfenster der Kirche eine monumentale Glasmalerei mit einer Darstellung des Abendmahls eingesetzt. Geliefert hatte sie der in St. Gallen geborene und unterdessen in Paris als Glasmaler etablierte Caspar Gsell (1814–1904). Verwaltungsrat Andreas Labhardt aus St. Gallen, ein Mitglied der Kirchenbaukommission, hatte das Glasmalerei-Atelier Laurent, Gsell et Cie. (später Gsell-Laurent) 1851 besucht und mit Gsell vereinbart, dass dieser für die reformierte Hauptkirche seiner Heimatstadt – Gsell war 1831 in der St. Laurenzenkirche konfirmiert worden – eine Glasmalerei zum Preis der effektiven Kosten ohne Gewinnmarge fertigen würde. Die von Labhardt im gleichen Jahr initiierte Subskriptionsliste für das Chorfenster, für welches unterdessen eine Skizze Gsells vorlag (vgl. Paris, Musée Carnavalet, D.14638(173)), belegt die Spenden von Bürger und Bürgerinnen der Stadt St. Gallen in der Höhe von 1374 Franken (Stadtarchiv St. Gallen, OGA, Seckelamt, XI, 13e: Kirche St. Laurenzen, Subskriptionsliste für die Erstellung eines gemalten Chorfensters vom 8.9.1851).
Ein für Ende Juli 1851 geplanter Besuch Gsells in St. Gallen (siehe Staatsarchiv St. Gallen, W 112 B 16.4, S. 538) fiel aus. Im Oktober 1851 wurden die Arbeiten für die eisernen Fensterrahmen ausgeschrieben und im August 1852 die nötigen Schablonen an Gsell gesandt. Dieser hielt sich nicht an den festgelegten Liefertermin, weshalb das Ostfenster im November 1852 provisorisch geschlossen und Gsell 1853 mehrfach gemahnt werden musste. Die Glasmalerei wurde endlich Ende Oktober 1853 geliefert und im November durch den Glasmaler Johann Jakob Röttinger (1817–1877) eingesetzt. Röttingers Atelier in Zürich hatte 1852–1853 die Glasmalereien für alle anderen Fenster der Kirche geliefert und montiert (Rautenverglasungen mit ornamentalen Bordüren sowie Blatt- und Blütenmustern in den Masswerken). Die Kirchenbaukommission hielt am 14. November 1853 fest, dass Gsells «[…] Arbeit in künstlerischer Beziehung als wohlgelungen sich herausstellt und der Kirche zu grosser Zierde gereicht» (Stadtarchiv St. Gallen, OGA, II, 6, 6: Protokoll der Baukommission, 1849–1853, S. 356; siehe auch S. 134, 168, 209, 210, 259, 263, 278, 306, 307, 313, 337, 341–343, 349, 352; siehe auch Rapp, 1981, S. 319). Als nachträgliche Massnahme musste 1854 der «turbanähnliche» Nimbus Christi, der als unpassend und das Bild störend wahrgenommen wurde, durch einen einfacheren Heiligenschein ersetzt werden (siehe Stadtarchiv St. Gallen, OGA, II, 6, 7: Protokoll der Baukommission, 1854–1860, S. 2, 9, 24, 26, 38).
Die Montage einer monumentalen Glasmalerei im Chor war durch den Architekten Johann Georg Müller (1822–1849) vorgeschlagen worden, der das Projekt für die umfassende Kirchenerneuerung im Stil der Neugotik von 1851–1854 geliefert hatte. Sein Aquarell von 1845, welches das geplante Innere der Kirche abbildet, zeigt ein teils rautenförmig verglastes Ostfenster mit Ornamenten sowie pro Lanzette einer Heiligenfigur unter architektonischem Baldachin (siehe Evangelisch-reformierte Kirchgemeinde St. Gallen, 1979, Abb. 48). Der Glasmaler Caspar Gsell hat sich in seinem Entwurf hingegen nicht an der Strenge und Flächigkeit mittelalterlicher Glasmalereien orientiert; seine perspektivische und bunte Darstellung des Abendmahls knüpft an Vorbilder aus dem Spätmittelalter und der Renaissance an (siehe auch Knoepfli, 1983, S. 20). Nicht bekannt ist, wer das letzte Abendmahl als Bildmotiv vorgeschlagen hatte; die Kirchenbaukommission kam im Oktober 1851 jedenfalls zum Schluss dass «[…] die Auswahl der Darstellung mit dem protestantischen Kultus im Einklange steht […]» (Stadtarchiv St. Gallen, OGA, II, 6, 6: Protokoll der Baukommission, 1849–1853, S. 210). Das Monumentalfenster Gsells mit seinem reichen Farbenspiel stellte den ausführenden Architekten Johann Christoph Kunkler (1813–1898) vor die Herausforderung, es mit der Wanddekoration in Einklang zu bringen, die nun einer intensiveren Farbgebung bedurfte (siehe Evangelisch-reformierte Kirchgemeinde St. Gallen, 1979, S. 139).
Das letzte Abendmahl ist ein Motiv, das Gsell im Lauf seiner Karriere als Glasmaler mehrfach und in stets leicht unterschiedlicher Art und Weise umsetzte, bspw. in der Pariser Kirche Saint-Eugène Sainte-Cécile (siehe CG_365). Im Musée Carnavalet in Paris wird eine Entwurfszeichnung von ca. 1851 zum Fenster in St. Gallen aufbewahrt (D.14638(173)). Sie belegt, dass der Baldachin leicht abweichend vom Entwurf umgesetzt wurde. Nebst der Signatur von Laurent-Gsell findet sich im Glasgemälde eine weitere Künstlersignatur. Es ist nicht bekannt, ob es sich bei dieser Person um einen Angestellten des Pariser Ateliers, oder den Autor eines später hergestellten Flickstücks handelt.
Im Rahmen der Gesamtrestaurierung der Kirche von 1963–1979 wurden die zwei mittleren Felder im untersten Register des Chorfensters, die bisher von der Orgel verdeckt waren und deshalb keine Glasmalereifelder enthielten, nach Vorlagen von Architekt Herbert Walser ergänzt und mit den baugeschichtlichen Daten versehen (siehe Evangelisch-reformierte Kirchgemeinde St. Gallen, 1979, S. 303).
Das Abendmahlsfenster in St. Laurenzen mit meisterhaft gemalten Details (Gesichter, Kelche, Stadtansicht im Hintergrund), ist die frühste monumentale Glasmalerei des 19. Jahrhunderts, die ein Schweizer Künstler für ein Sakralgebäude in der Schweiz herstellte. Gsell, der als Pionier der Glasmalerei des Historismus gilt und insbesondere in Frankreich tätig war, hat ansonsten nur für eine einzige weitere Kirche in der Schweiz, das Basler Münster (CG_64–CG_68), Glasmalereien geliefert.
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