Die Stiftungsumstände vorliegender Scheibe sind nicht geklärt. Nach Knoepfli (1950, S. 195) wurde sie wie die andere im mittleren Chorfenster von Gachnang befindliche Scheibe vom Reichenauer Abt Martin von Weissenburg gestiftet (vgl. TG_115). Sie ist jedoch wesentlich grösser als die Abtscheibe und kann nicht für eines der Chorfenster bestimmt gewesen sein: die vorliegende Figurenscheibe misst 45,5 cm und ist somit breiter als die Lanzette des Chorfensters, deren Breite im Licht gemessen nur 38,2 cm beträgt (die Scheibe ist dem Fenster heute vorgesetzt).
Knoepfli (1950, S. 195) vermutete in der Figur des Bischofs in Entsprechung zur Scheibe des Martin von Weissenburg den hl. Martin. Da die beiden Scheiben nicht zusammengehören und das Kind kein typisches Attribut des hl. Martins ist, ist diese Identifizierung jedoch in Frage zu stellen. Ein anderer heiliger Bischof hingegen, wird oft mit einem Kind dargestellt: der hl. Augustinus. Das Kind, meist mit einem Löffel in der Hand dargestellt, verweist auf die Legende, wonach Augustinus einen Knabe am Strand traf, der mit einem Löffel Wasser aus dem Meer schöpfte. Auf dem vorliegenden Glasgemälde hält das Kind zwar keinen Löffel, weist aber mit seiner Hand auf den kleinen Flusslauf zu seinen Füssen. Darstellungen des Augustinus mit Kind finden sich etwa auf den Stiftungen des Abtes des Augustiner-Chorherrenstiftes Kreuzlingen Georg Strassburger (TG_140) oder auf derjenigen des Einsiedler Abtes Augustin II. Reding (BE_1613).
Da die Scheibe weder Inschrift, Jahreszahl noch ein Wappen zeigt, gehörte sie vermutlich zu einer Doppelstiftung (vgl. etwa die Doppelscheibe Hugo von Hohenlandenbergs aus der Kirche Maschwanden von 1506, Schneider, 1971, Bd. 1, Nr. 100/101). Von wem diese stammt und ob etwa ein Zusammenhang zum Augustiner-Chorherrenstift Kreuzlingen besteht, konnte bislang nicht geklärt werden.
Die Scheibe befand sich bereits im Jahr 1774 am heutigen Standort im zweilanzettigen mittleren Chorfenster der Kirche (vgl. die Skizze des Einsiedler Benediktinermönch R. P. Lukas von der Weid im Stiftsarchiv Einsiedeln, E A I; Brun, 1888, S. 62). Da sie zu gross für die Chorfenster ist, befand sie sich ursprünglich vermutlich in einem der (heute nicht mehr existierenden) damaligen Langhausfenster (heute ist sie der Lanzette vorgeblendet).
Weitere fünf Glasgemälde aus der Erbauungszeit des Chores sind durch eine Beschreibung und die genannten Wappenskizzen des Einsiedler Benediktinermönch R. P. Lukas von der Weid von 1774 belegt. In der ersten Reihe beginnt von der Weid mit der Allianz von Schienen-von Hohenrechberg und der Jahreszahl 1493. Die Allianz bezieht sich auf Hugo von Schienen, Herr zu Gachnang bis 1505, und Agnes von Rechberg (Hofmann-Hess, 1945, S. 63). Als zweite Wappenskizze folgen die heute noch vorhandenen Scheiben mit den Heiligen Mauritius und Augustinus (auch von von der Weid so bezeichnet und als Wappen behandelt) und des Martin von Weissenburg (als Bischof von Konstanz bezeichnet). Anschliessend folgt die Allianz Ludwig Ryff genannt Welter zu Blidegg und Amalia von Weiler, zusammen mit der Jahreszahl 1495. Ludwig Ryff war bis 1529 Herr zu Kefikon (Trösch, 2013). In der zweiten Reihe folgt eine Allianz mit dem Wappen von Gachnang und einem unbekannten Wappen (in Weiss drei rote Hämmer), das Wappen Stör sowie die Allianz von Schienen-von Hohenlandenberg. Letztere bezieht sich auf Sixtus von Schienen, vormaliger Herr zu Gachnang, und Margaretha von Hohenlandenberg, die Eltern des Hugo (Schellberger, 2006, S. 118). Der 1493/95 in die Kirche von Gachnang gestiftete Zyklus der Herren zu Gachnang lässt sich somit grösstenteils rekonstruieren. Vermutlich kamen auch später noch Stiftungen in die Kirche, denn nach der 1695 vom Gachnanger Pfarrer Johann Heinrich Lavater verfassten Beschreibung waren damals in den Chorfenstern der Kirche “etliche alte und neue Wappen” zu sehen (Rahn/Haffter, 1899; Hofmann-Hess, 1945, S. 152f.; Herrmann, 1991, S. 44f.). In den Kirchrechnungen sind ab dem Jahr 1563 zahlreiche Zahlungen an Glaser verzeichnet, diese beziehen sich aber hauptsächlich auf Blankverglasungen und Flickarbeiten (Herrmann, 1991a, S. 20–21). Die fünf verschollenen Glasgemälde aus der Erbauungszeit des Chores wurden 1887 verkauft (Kirchgemeindearchiv Gachnang, U.XI/7–11/G; vgl. Herrmann, 1991a, S. 24).
Die Scheibe des Reichenauer Abtes (TG_115) entstand wahrscheinlich in der dem Kloster nahe gelegenen Stadt Konstanz. Dort war in dieser Zeit Hans Stillhart (†1522) tätig. Zwar sind sich die beiden in Gachnang befindlichen Glasgemälde in stilistischer Hinsicht nur in geringem Masse ähnlich, eine andere Stiftung Martin von Weissenburgs hingegen ist mit dem vorliegenden Glasgemälde in motivischer und stilistischer Hinsicht eng verwandt. Die 1504 datierte, kleinere Scheibe im Schweizerischen Nationalmuseum (Schneider, 1971, Bd. 1, Nr. 72) zeigt denselben Granatapfel- und Blattdamast sowie eine identische Krümme wie das vorliegende Glasgemälde. Demnach ist auch die vorliegende Scheibe Hans Stillhart zuzuweisen. Da von diesem jedoch keine gesicherten Glasmalereien überliefert sind, bleibt die Zuschreibung hypothetisch.
Die Scheibe wird genannt in:
Brun, 1888, S. 62.
Büchi, 1890, S. 29.
Rahn/Haffter, 1899, S. 163.
Hofmann-Hess, 1945, S. 156, Abb. S. 155.
Knoepfli, 1950, S. 194f., Abb. 137.
Raimann, 1981, S. 27, 31.
Bollhalder-Müller, 1990, S. 11.
Herrmann, 1991, S. 44f., Abb. 34.
Herrmann, 1991a, S. 22.
Ducret et al., 1999, S. 211, Abb.
Volkart, 2018, S. 304, Abb. 151.