Das Masswerkfenster s XII ist das jüngste und spektakulärste der 16 Fenster der Kirche Saint-Godard in Rouen, für die das Pariser Atelier Gsell-Laurent zwischen 1857 und 1867 neue farbige Verglasungen schuf. Das der unbefleckten Empfängnis Marias gewidmete Fenster befindet sich in der Westfassade gegenüber des Wurzel-Jesse-Fensters aus dem frühen 16. Jahrhundert (s III). Da die Glasmalerei im 20. Jahrhundert stark beschädigt wurde und zur Zeit der Restaurierung in den 1980er Jahren offenbar nur ungenügende Informationen zum Originalzustand vorlagen, ist heute das Bildprogramm des obersten Registers der Lanzetten nicht mehr ohne weiteres zu verstehen. Zudem erscheint die Prozession im zweiten Register rechts verändert: die zwei erhaltenen Figuren des 19. Jahrhunderts wurden mit der Darstellung von sechs typähnlichen Mönchen ergänzt. Anhand der im Musée Carnavalet in Paris aufbewahrten Entwurfszeichnung (D.14638(177)), im Diözesanarchiv von Rouen aufbewahrter Briefe (Archives diocésaines de Rouen: Archives de la paroisse Saint-Godard de Rouen, 3P4, vier Briefe von Gsell-Laurent an Abbé Pierre Lanchon, 8.10.1866, 25.10.1866, 11.11.1866, 24.12.1867), und zwei Publikationen aus den 1860er Jahren, die das Fenster beschreiben und reproduzieren (Mesnard, 1867, S. 16–19 und Didron, 1868, S. 28) lassen sich die ursprüngliche Konzeption und der Inhalt der Glasmalerei rekonstruieren. Demnach befanden sich die heute zwischen dem zweiten und dritten Register eingefügten Architekturelemente einst am Fuss der Lanzetten. Der Stich des Fensters (Mesnard, 1867, S. 17) und die in den 1980er Jahren angefertigten Fotografien der Fragmente der beschädigten Glasmalerei (Charenton-le-Pont, Médiathèque de l’architecture et du patrimoine: I-2017-14-41, Seine-Maritime, Rouen, église Saint-Godard) belegen zudem, dass ursprünglich am Fuss der mittleren Lanzette eine Inschrift zum Dogma der unbefleckten Empfängnis zu sehen war, während in den übrigen Schriftbändern der Lanzetten die Figuren bzw. Ereignisse der Bildfelder des zweiten und dritten Registers benannt waren. Die noch erhaltene Prozession links zeigt demnach die folgenden Personen: Prophet Moses mit dem brennenden Dornbusch; Jakob mit der Jakobsleiter; Aaron mit einem Weihrauchfass; Gideon mit dem goldenen Vlies; König Salomon mit einem Tempel; König David mit einer Leier; Prophet Jesaja mit einer blühenden Rute mit Marienkopf; die Erythraeische Sibylle – eine den Propheten gleichzustellende pagane Verkünderin der Apokalypse – mit einer Rosenknospe. Die Prozession rechts zeigte ursprünglich mehrere Mönche, denen die Jungfrau Maria erschienen war, sowie Kirchenväter, die sich im Sinne des Dogmas der unbefleckten Empfängnis Marias äusserten, und die in den Händen das Emblem einer Eigenschaft trugen, die sie der Jungfrau zusprachen. Erhalten sind bis heute Teile der Figuren des heiligen Simon Stock (ursprünglich mit dem Skapulier in den Händen) und des heiligen Dominikus mit dem Rosenkranz. Weiter waren ursprünglich folgende Personen gezeigt: der heilige Bernhard von Clairvaux; der heilige Anselm von Canterbury mit einer weissen Lilie; der heilige Johannes von Damaskus mit einer Taube; der heilige Germanos I. von Konstantinopel; der heilige Epiphanius (von Salamis?) mit dem Lamm; der heilige Augustinus mit dem brennenden Herzen.
Die vier Bildszenen des dritten Registers zeigen laut den überlieferten Inschriften folgende vier historischen Ereignisse: 1. Das Fest des «Puy de la conception» oder der «Palinods» von Rouen 1070, ein Dichterwettbewerb zum Lob der unbefleckten Empfängnis Marias, organisiert durch die erste damals in Rouen gegründete Bruderschaft der unbefleckten Empfängnis Marias. 2. Das Generalkapitel des Franziskanerordens nimmt 1263 in Pisa unter der Leitung des heiligen Bonaventura das Fest der unbefleckten Empfängnis Marias unter die Eigenfeste des Ordens auf. 3. Papst Sixtus IV. (1414–1484) veröffentlicht 1483 die Bulle «Grave nimis», die die Bewahrung Marias von der Erbsünde im Augenblick ihrer Empfängnis erklärt. 4. Der Bischof von Mainz lässt um 1500 im sogenannten Immakulistenstreit die Schriften des Frankfurter Dominikaners Wigand Wirt verbrennen. Ein Abbild der Jungfrau Maria (als Statue bzw. auf einem Banner) ist in alle vier Bildszenen integriert. Bei der im Zentrum des Registers dargestellten Maria auf der Mondsichel fehlt heute die Schlange als Symbol der Erbsünde, die von der Jungfrau zertreten wird.
Das Bildprogramm des Fensters zeigt mit der Proklamation des Dogmas von der unbefleckten Empfängnis Marias 1854 ein fast zeitgenössisches Ereignis im Kontext mit für den Glaubenssatz relevanten Protagonisten und Ereignissen. Aus der Korrespondenz zwischen Caspar Gsell und dem Priester Pierre Lanchon geht hervor, dass Lanchon als Thema für das Fenster die Glorifizierung der heiligen Jungfrau Maria vorgeschlagen hatte. Es war jedoch der Glasmaler Caspar Gsell, der nach einem Besuch in Rouen Anfang Oktober 1866 das komplexe Bildprogramm um die Proklamation des Dogmas von der unbefleckten Empfängnis vorschlug und entwickelte, wie aus einem seiner Briefe an den Priester hervorgeht: «Monsieur. En vous quittant samedi au soir je ne cessais de ruminer le programme de notre grande verrière, j’avais 4 heures de chemin de fer pour y penser à loisir. – Aussi tout d’un coup j’ai crié ‹Euréka› … réellement je crois avoir trouvé ce qu’il faudrait (surtout quand au sentiment artistique) pour en faire un vitrail splendide. Je suis partie du point de vue de la position de cette verrière, qui est en face de la chapelle de la Sainte Vierge et en même temps la dernière de votre Église et de plus il m’a semblé qu’il serait très heureux si nous pouvions trouver quelques sujet locale [sic.] se rapportant à Rouen. Dans le programme que j’ose vous présenter et même vivement recommander tout cela est motivé. Vous allez voir. Votre proposition étant : La glorification de la Sainte Vierge et la fenêtre étant au bout de l’église, je vous propose le dernier Dogme promulgué, celui de l’Immaculée conception, dont la première fête authentique s’est célébrée à Rouen l’an 1070 et qui s’appelle depuis cette année la fête des Normands» (Brief von Gsell-Laurent an Abbé Pierre Lanchon vom 8.10.1866). Seine Entwurfsskizze, «un travail d’Hercule qui demande bien de recherches» (Brief von Gsell-Laurent an Abbé Pierre Lanchon vom 25.10.1866), schickt Gsell erst nach Rouen, nachdem er sie der Kommission der Weltausstellung von 1867 präsentiert hat. Mit Lanchon müssen einzelne Fragen darüber geklärt werden, welche Personen in den Prozessionen des zweiten Registers gezeigt werden sollen, wobei Gsell als Künstler insbesondere Wert auf deren Attribute legt (Brief von Gsell-Laurent an Abbé Pierre Lanchon vom 11.11.1866).
Die Anfang 1867 umgesetzte Glasmalerei wird zur Weltausstellung in Paris zugelassen und daraufhin in zwei Publikationen besprochen. Jules Mesnard findet nur lobende Worte für Gsells Glasmalerei für die Kirche Saint-Godard in Rouen und betont die Qualität ihrer Farbgebung und Komposition: «[…] les verrières de M. Gsell sont composées avec autant de soin, avec autant de pensée au fond que n’importe quelle œuvre artistique» (Mesnard, 1867, S. 16 und 18). Édouard Didron bezeichnet die Darstellungen der Patriarchen, Propheten und Heiligen des zweiten Registers als gelungen, bemängelt aber die dramatische Geste des Papstes und die nach ähnlichem Schema gezeichneten Köpfe der Bischöfe in der Szene der Verkündigung des Dogmas (siehe Didron, 1868, S. 28). Trotzdem kommt er zum Schluss, dass die Glasmalerei insgesamt ein wichtiges Werk sei, das durch eine komplexe Erzählweise beeindrucke: «[…] la proclamation du dogme nouveau, bien qu’elle soit le sujet principal, est seulement la conclusion, l’épilogue de l’histoire d’une croyance ancienne que le peintre nous raconte en représentant les faits les plus curieux qui s’y rapportent à différents âges. Quelques légendes ou traditions spéciales à Rouen (1070), Pise (1263), Rome (1483), Mayence (1497), sont rappelées dans cette vaste composition, de manière à démontrer combien est vieille et universelle la dévotion à la Mère de Jésus, ainsi que la foi en sa conception sans tache» (Didron, 1868, S. 28).
Entgegen Didrons Vermutung hat Gsell in der Szene der Verkündigung des Dogmas offenbar auch einzelne Porträts von geistlichen Würdenträgern untergebracht, die am 8. Dezember 1854 im Petersdom anwesend waren (Archives diocésaines de Rouen: Archives de la paroisse Saint-Godard de Rouen, 3P4, Brief von Gsell-Laurent an Abbé Pierre Lanchon vom 24.12.1867). So handelt es sich beim in der vordersten Reihe dargestellten dritten Mann von links vermutlich um Auguste Sibour (1792–1857), den Erzbischof von Paris.
Die Kosten für die Glasmalerei mitsamt Platzierung betrugen 5’500 französische Francs (Archives diocésaines de Rouen: Archives de la paroisse Saint-Godard de Rouen, 3P4, Rechnung von Gsell-Laurent an Abbé Lanchon vom November 1867).
Eine ebenfalls in den 1860er Jahren von Gsell-Laurent nach gleicher Vorlage umgesetzte Darstellung der Proklamation des Dogmas von der unbefleckten Empfängnis Marias befindet sich in Rouen in der Kirche Saint-Vivien (CG_154); siehe auch die Entwurfszeichnung für ein Fenster der Basilika Notre-Dame-de-Bon-Secours in Guingamp (Musée Carnavalet, Paris; D.15999).
Alle Glasmalereien von Gsell-Laurent für die Kirche Saint-Godard wurden während der Amtszeit des Priesters Pierre Lanchon (1804–1868) erstellt, der sich stark für die Aufwertung des Kirchenraums einsetzte. Die ersten Glasmalereien des Pariser Ateliers wurden in den Seitenschiffen in der Nähe des Chors eingesetzt, das letzte 1867 in der Westfassade der Kirche. Die Glasmalereien erzählen von der Stadtgeschichte sowie dem Leben und Sterben biblischer Personen und Heiliger, die oftmals für Rouen und die Normandie, oder für die Kirche und den Staat Frankreich relevant waren. Häufig sind zwei Bildszenen übereinander angeordnet; passend zum Stil der Kirche wurde für die Rahmen der Bildszenen und die Masswerkfüllungen meist ein Dekor im Stil der Gotik, selten auch im Stil der Renaissance gewählt.
Der Glasmaler Caspar Gsell war in den 1840er Jahren kurzzeitig mit Pierre-Charles Marquis (1798–1874) assoziiert gewesen, der 1852 die drei Glasmalereien für den Chor der Kirche Saint-Godard schuf. In Rouen war Gsell Mitte der 1850er Jahre bereits bekannt als Autor der Verglasungen der neu erbauten Kirche Notre-Dame im benachbarten Bonsecours (CG_105–CG_150). Bei den Glasmalereien für die Kirche Saint-Godard handelt es sich um einen frühen und umfangreichen Zyklus innerhalb seines Werks aus der Zeit, in der sich Gsell definitiv als einer der wichtigsten Glasmaler in Paris etablierte. Mit der Heirat der Tochter seines Firmenpartners 1859 erfolgte auch die Umbenennung des Ateliers von «Laurent, Gsell et Cie.» in «Gsell-Laurent».
Während der Bombardierungen der Stadt Rouen im 2. Weltkrieg wurden die historistischen Glasmalereien der Kirche Saint-Godard teils erheblich beschädigt. Ihre Restaurierung konnte in den 1980er und 1990er Jahren durch Michel Durand (1950–2006) vorgenommen werden.
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