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Bis auf das Datum ist die Standesscheibe eine genaue Wiederholung der vorhergehenden Freiburger Scheibe von 1622 (FR_95). Aufgrund der Seckelamtsrechnungen können beide Scheiben dem Freiburger Glasmaler Johann Wäber zugeschrieben werden, der 1622 und 1623 für eine Anzahl von Standesscheiben bezahlt wurde. Die vorliegenden Glasgemälde sind daher auch ein sehr schönes Beispiel für die serienmässige Produktion der obrigkeitlichen Scheiben, die auf Vorrat angelegt und bei passender Gelegenheit verschenkt wurden.
Mit der Darstellung der Justitia über der Wappenpyramide drückt die Obrigkeit von Freiburg ihre Pflicht aus, die Gerechtigkeit in der Stadt und in den Untertanengebieten mit Nachdruck durchzusetzen. Die allegorische Darstellung besitzt jedoch noch eine tiefere, subtilere Bedeutung, denn sie beruht auf einer Gerechtigkeitsvorstellung, die offenbar im benachbarten konkurrienden Bern besonders ausgeprägt war und dort schon 1543 im Gerechtigkeitsbrunnen zum Ausdruck kommt, einem Werk des Freiburger Bildhauers Hans Gieng (Freiburger Skulptur 2011. Bd. I. S. 310–312). Die Brunnenfigur der Gerechtigkeit steht über vier Büsten, die Kaiser, Papst, Sultan und König darstellen. Sie nimmt somit gleichsam die Stelle und Funktion einer Tugend ein, welche über die Laster triumphiert (vgl. hierzu und zu dem folgenden die hervorragende Zusammenfassung und Analyse bei Schneeberger 2006. S. 158–160). In Bern ist dieses Motiv auch aus zahlreichen Scheiben und Scheibenrissen bekannt. Es wird bereits in dem Entwurf zu einer Berner Gerichtsherrenscheibe Hans Rudolf Manuels aus dem Jahr 1558 aufgenommen (BHM Slg Wyss Inv. 20036.595; Hasler 1996/1997. Bd. I. S. 180–190, Nr. 189), ebenso findet es sich als Mittelbild in einer Bernischen Scheibe des Anton Wyss, die dieser 1578 als Vogt zu Wangen in die Kirche Aarwangen stiftete (Foto SLM 8254. Scheidegger 1947. S. 128, Nr. 111; Moser 1977. S. 40, 62; Kurmann-Schwarz 1998. S. 398; BE_14) und in einer Scheibe des Gwer (Quirinus) Franz im Bernischen Historischen Museum von 1622 (BHM Inv. Nr. 392; Bergmann 2014. Bd. 2. Abb. 89.1; BE_901). Mit einer Scheibenstiftung Hans Stokars und Elisabeth Peyers aus der Hand des St. Galler Glasmalers Andreas Hör ist diese Gerechtigkeitsdarstellung aber auch schon 1562 ausserhalb von Bern nachgewiesen (SLM IN 67/49; Boesch. 1956. S. 17, Nr. 3, Taf. 1, Abb. 5; Schneider 1971. Bd I. S. 107, Nr. 299). Desgleichen dominiert Justitia die Fürsten in einer Rundscheibe des Gerichts Wetzikon von 1586 (Von einem unbekannten Meister. London, Victoria and Albert Museum C 63-1919; Boesch 1954/IV. S. 80–81 mit Abb.), auf einem Scheibenriss Tobias Stimmers (1539–1584) um 1567 (Staatliche Kunsthalle Karlsruhe Inv. XI.264; Tobias Stimmer 1984. S. 424–425, Nr. 265, Abb. 272; Mensger 2009. S. 41–43, Nr. 13; Bergmann 2014. Bd. 2. Abb. 89.2) und auf weiteren Rissen und Glasgemälden.
Mit dem Wolkenmotiv, das im Gegensatz zum Berner Gerechtigkeitsbrunnen in den Scheiben stets auftaucht, wird der Bezug zum himmlischen Urteilsspruch hergestellt, den üblicherweise an dieser Stelle der hl. Michael fällt. Die “Göttliche Gerechtigkeit” war während der Reformation in Bern ein politisches Thema, verwies sie doch auf die Gerechtigkeit nach dem Wort Gottes, das mehr galt als ein Fürstenwort (Vgl. Schneeberger 2006. Die Diskussion verbreitete sich offenbar auch über die anderen Orte v. a. des neuen Glaubens). Die göttliche Gerechtigkeit steht über weltlicher Herrschaft, schreitet über die irdischen Herrscher hinweg, ist unabhängig von Rang und Namen und findet das Urteil – normalerweise mit verbundenen Augen – allein durch die Erforschung des Gewissens. Die “Gerechtigkeit für alle” hatte in der von republikanischem Geist geprägten Eidgenossenschaft, die sich der Herrschaft der Feudalherren entzogen hatte, einen folgerichtigen Platz. Bedeutungsvoll und politisch sehr relevant ist hier, dass der Papst – anders als im reformierten Bern – im katholischen Freiburg ausgenommen ist, diesem höchsten geistlichen Fürsten die Autorität in Fragen der Gerechtigkeit also nicht abgesprochen wird. Das Bildmotiv, hier erstmals in einer Freiburger Standesscheibe nachgewiesen, gehörte ganz offensichtlich zum Repertoire der obrigkeitlichen Freiburger Wappenstiftungen in die umliegenden Kirchen und Gemeinden und findet sich auch auf anderen Standesscheiben wieder (FR_89, FR_95).
Datation
1623
Date d'entrée
1894
Commanditaire / Donateur·trice
Donateur·trice / Vendeur·euse
Erbengemeinschaft Charles-Auguste Von der Weid
Localisation d'origine
Lieu de production
Propriétaire
Propriétaire précédent·e
1894 von der Erbengemeinschaft Charles-Auguste Von der Weid erworben.
Numéro d'inventaire
MAHF 3498