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BE_901: Bildscheibe Gwer Franz mit Justitia über den Weltenherrschern
(BE_Bern_BHM_392)

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Title

Bildscheibe Gwer Franz mit Justitia über den Weltenherrschern

Type of Object
Artist / Producer
Lohner, Kaspar · zugeschr.
Dating
1622
Dimensions
42.7 x 33.5 cm im Licht

Iconography

Description

Im Zentrum schwebt über einem blauen Wolkenband die von gleissendem Sonnenlicht umstrahlte Justitia in langem rotem Rock und gelbem Mantel. Mit gekröntem Haupt und verbundenen Augen hält sie in den Händen Richtschwert und Waage. Zu ihren Füssen sind in den Wolken Kaiser, Papst, Sultan und weitere Regenten versammelt. Das Glas mit der Taube des Heiligen Geistes und der Fürbitte-Botschaft Christi auf einem lateinischen Schriftband ("Schau meine Wunden, Vater, und mach, worum meine Mutter bittet") ist ein altes Flickstück aus einer anderen Scheibe. Im Oberbild sind nur die linke Ecke mit Abraham bei der Opferung Isaaks sowie das Stück am rechten Rand original. Die drei Szenen dazwischen sind gleichfalls Flickstücke (Ermordung des hl. Meinrad; Christus und die Samariterin am Brunnen; unidentifizierte Darstellung [laut Foto SNM Zürich angebliche Bekehrung Sauls]). Die Hauptszene rahmt ein fragiles doppelstöckiges Architekturgebilde aus Pfeilern, Säulen und einem zierlichen Gebälk. Damit kontrastiert die den Scheibenfuss füllende grüne Kartusche aus üppigem Rollwerk, der im Zentrum das Stifterwappen aufgesetzt ist.

Iconclass Code
11M44 · Justice, 'Justitia'; 'Giustitia divina' (Ripa) ~ one of the Four Cardinal Virtues
11P3111 · pope
44B1 · ruler, sovereign
44B116 · regent, substitute ruler; viceroy
46A122 · armorial bearing, heraldry
Iconclass Keywords
Heraldry

Wappen Gwer Franz

Inscription

Gwer Frantz / Vβ Dem Obere Sübenthal / 16 22.
VULNERA CERNE PATER, FAC QUAE / ROGITAT MEA MATER (Flickstück).

Signature

Keine

Technique / State

State of Conservation and Restorations

Zwei neue Ergänzungen im Mittelbild und eine weitere am rechten Rand. Im Mittelbild ist das Glas mit der Taube des Heligen Geistes ein altes Flickstück und im Oberbild sind mit Ausnahme der Eckgläser links und rechts alles alte Flickstücke. Sprünge und Sprungbleie; die Verbleiung erneuert.

Technique

Farbloses und farbiges Glas; Bemalung mit Schwarzlot, Silbergelb und Eisenrot sowie blauer und violetter Schmelzfarbe.

History

Research

Über den Stifter der Scheibe Gwer (Quirinus) Franz ist bis heute nichts bekannt. Nichtsdestotrotz muss er im Berner Obersimmental eine bedeutende lokale Position in Politik und Rechtsprechung eingenommen haben. Darauf weisen nicht nur der künstlerische Aufwand, sondern auch die ins Scheibenzentrum gesetzte Justitia, die über die Weltenherrscher hinweg urteilt. Diese allegorische Darstellung beruht auf einer Gerechtigkeitsvorstellung, die in Bern besonders ausgeprägt war und dort schon 1543 im Gerechtigkeitsbrunnen zum Ausdruck kommt. Dieser Brunnen zeigt Justitia über den vier Büsten des Kaisers, Papstes, Sultans und Königs. Sie nimmt somit gleichsam die Stelle und Funktion einer Tugend ein, welche über die Laster triumphiert. In Bern ist dieses Motiv auch aus zahlreichen Scheiben und Scheibenrissen bekannt. Es wird bereits in dem Entwurf zu einer Berner Gerichtsherrenscheibe Hans Rudolf Manuels aus dem Jahr 1558 aufgenommen (Hasler 1996/97, Bd. 1, Kat.-Nr. 189). Mit einer Scheibenstiftung Hans Stokars und Elisabeth Peyers aus der Hand des St. Galler Glasmalers Andreas Hör ist diese Gerechtigkeitsdarstellung aber auch schon 1562 ausserhalb Berns nachgewiesen. Desgleichen dominiert Justitia die Fürsten in einer Rundscheibe des Gerichts Wetzikon von 1586 (London, Victoria and Albert Museum, Inv. C.63-1919) und auf einem Scheibenriss Tobias Stimmers aus der Zeit um 1567 (Staatliche Kunsthalle Karlsruhe, Inv. XI 264; Mensger 2012, Bd. 2, Kat.-Nr. 799 u. Bd. 1, Farbabb. S. 24; vgl. zusammenfassend Hasler 1996/97, Bd. 1, Kat.-Nr. 189; Bergmann 2014, Kat.-Nr. 89; Hasler 2016, S. 86–90).
Mit dem Wolkenmotiv, das im Gegensatz zum Berner Gerechtigkeitsbrunnen in den Scheiben stets auftaucht, wird der Bezug zum himmlischen Urteilsspruch hergestellt, den üblicherweise an dieser Stelle der hl. Michael fällt. Die Gerechtigkeit nach dem Wort Gottes bildete für die Reformatoren die einzig wahre Autorität. Ihr verpflichtet sah sich seit 1528 auch Berns Obrigkeit. Die "göttliche Gerechtigkeit" steht über weltlicher Herrschaft, schreitet über die irdischen Herrscher hinweg, ist unabhängig von Rang und Namen und findet das Urteil – normalerweise mit verbundenen Augen – allein durch die Erforschung des Gewissens. Die “Gerechtigkeit für alle” hatte in der von republikanischem Geist geprägten Eidgenossenschaft, die sich der Herrschaft der Feudalherren entzogen hatte, einen folgerichtigen Platz und fand selbst im katholischen Freiburg einen bildlichen Niederschlag. Dies belegen die drei Freiburger Standesscheiben von 1611, 1622 und 1623 im Museum für Kunst und Geschichte Freiburgs (Inv. MAHF 1998-019, 3491, 3498). Bei ihnen tiumphiert die wolkenumkränzte Justitia jeweils im Oberbild über die gekrönten Herrscher, wobei unter diesen die Figur des Papstes bezeichnenderweise stets fehlt; Bergmann 2014, Bd. 2, Kat.-Nrn. 89, 95, 96; Bergmann 2016).
Von der nachhaltigen Wirkung, die dieser Bildtypus an seinem Entstehungsort selbst ausübte, zeugen die aus Bern und seinen Untertanenlanden erhaltenen Beispiele der Zeit nach 1560. Dazu zählen die beiden Bildscheiben des Landvogtes Anton Wyss von 1570 und 1578 in der Kirche Aarwangen und im Philadelphia Museum of Art (Inv. 2005-49-I; Burnam 2012, Nr. 23, Farbabb. 23 [dem Berner Glasmaler Joseph Gösler zugeschrieben]), der um die gleiche Zeit von Hans Ulrich I. Fisch geschaffene, möglicherweise für eine Scheibenstiftung in die Kirche Gontenschwil bestimmte Entwurf (BHM Bern, Inv. 20036.542; Hasler 1996/97, Bd. 1, Kat.-Nr. 7) sowie das Glasgemälde des Lotzwiler Vogtes Heinrich Stähli von 1656 im Museumsdepot des Burgdorfer Kornhauses (Inv. 40.52; Hasler 2016, S. 86–90, Abb. 3).

Der ursprüngliche Standort der Scheibe des Obersimmentalers Gwer Franz ist nicht überliefert. 1623 wurden jedoch nachweislich die Fenster im Pfrundhaus (Pfarrhaus) von Zweisimmen erneuert. Für die vier dorthin gelieferten Kreuzfenster erhielten damals Tischmacher, Schlosser, Glaser und Glasmaler laut der Amtsrechnung 40 Pfund. Dass die Scheibe für dort geschaffen wurde, ist jedoch ungesichert.
Stilistische Gründe lassen die vorliegende Scheibe dem Thuner Glasmaler Kaspar Lohner zuweisen. Möglicherweise hatte sie den gleichen Bestimmungsort wie die Stadtscheibe Thuns von 1624 im Bernischen Historischen Museum (BHM Bern, Inv. 393), mit der sie 1881/82 ins Museum gelangte (ob beide Werke über die Sammlung Friedrich Bürkis dorthin kamen, ist ungewiss). Aufgrund ihrer stilistischen Verwandtschaft müssen diese zwei Glasgemälde aus der gleichen Werkstatt stammen. Zu den weiteren verwandten Werken gehören auch die Scheibe der Landschaft Frutigen von 1623 (BHM Bern, Inv. 2998) und diejenige Jakob Pierens und Magdalena Hauswirths von 1623 (BHM Bern, Inv. 6515). Unter den signierten Werken Kaspar Lohners ist vor allem die Ämterscheibe Berns von 1622 in der Kirche Kandersteg mit der Scheibe von Gwer Franz vergleichbar. Dessen signierte Scheibe Frutiger/Bauer von 1640 (BHM Bern, Inv. 5630) weist hingegen eine andere Radiertechnik auf und hebt sich vor allem auch in der Kopfgestaltung davon ab. Der Glasmaler Kaspar Lohner tätigte 1642 eine Eigenstiftung, auf der er sich und seine Frau Maria Engemann in Form eines Willkomm-Paares darstellte (unbekannter Besitz; Kat. Thun 1964, Nr. 181, Abb.).

Dating
1622
Original Donor

Franz, Gwer

Previous Location
Place of Manufacture
Owner

Seit 1882 Bernisches Historisches Museum

Previous Owner

Bis 1881 Sammlung Friedrich Bürki, Bern. – 1881 Antiquarium Bern (laut Heinz Matile, in: Kartei zur Slg. Bürki, BHM Bern).

Inventory Number
BHM 392

Bibliography and Sources

Literature

Katalog der Sammlungen des historischen Museums in Bern, Bern 1882, S. 54.

Eduard von Rodt, Katalog der Sammlung des historischen Museums in Bern, Bern 1884 (2. Aufl.), S. 53.

Eduard von Rodt, Katalog der Sammlung des historischen Museums in Bern, Bern 1892 (3. Aufl., inklusive Supplement mit Zuwachs der Jahre 1892 bis und mit April 1895), S. 48.

Franz Thormann/Wolfgang Friedrich von Mülinen, Die Glasgemälde der bernischen Kirchen, Bern o. J. [1896], S. 46.

Franz Thormann, Die Glasgemälde im Historischen Museum Bern, Separatdruck aus den Blättern für bernische Geschichte, Kunst und Altertumskunde, Bern 1909, S. 11.

Uta Bergmann, Die Freiburger Glasmalerei des 16. bis 18. Jahrhunderts, Bern etc. 2014, Bd. 2, S. 570, Farbabb. 89.1.

Rolf Hasler, Justitia in neuem Licht. Die Richterin über Arm und Reich in zwei Bildwerken der bernischen Glasmalerei, in: Licht(t)räume. Festschrift für Brigitte Kurmann-Schwarz zum 65. Geburtstag, Petersberg 2016, S. 86.

Vgl.

700 Jahre Thuner Handveste. Thun in der Kunst früherer Zeiten, Ausstellungskatalog Schloss Schadau, Thun 1964.

Rolf Hasler, Die Scheibenriss-Sammlung Wyss. Depositum der Schweizerischen Eidgenossenschaft im Bernischen Historischen Museum, 2 Bde., Bern 1996/97.

Ariane Mensger, Die Scheibenrisse der Staatlichen Kunsthalle Karlsruhe, 2 Bde., Köln/Weimar/Wien 2012.

Renée K. Burnam, Stained glass before 1700 in the collection of the Philadelphia Museum of Art (CVMA USA, Part VI/I), London 2012.

Uta Bergmann, Standesscheibe 1623/ Le vitrail d’Etat de Fribourg de 1623. Blätter des MAHF Fiches du MAHF, Freiburg i. Ü. 2016.

References to Additional Images

SNM Zürich, Neg. 9227 (Kaspar Lohner, Thun)

Image Information

Name of Image
BE_Bern_BHM_392
Credits
© Bernisches Historisches Museum, Bern. Foto: Yvonne Hurni
Date
2007
Copyright
© Bernisches Historisches Museum, Bern (www.bhm.ch)
Owner

Seit 1882 Bernisches Historisches Museum

Inventory

Reference Number
BE_901
Author and Date of Entry
Rolf Hasler 2016; Sarah Keller 2016; Uta Bergmann 2016

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