Name

Giacometti, Antonio Augusto

Namensvarianten
Giacometti, Augusto
Lebensdaten
16.8.1877 Stampa–9.6.1947 Zürich
AutorIn und Datum des Eintrags
Astrid Kaiser 2016; Christina Snopko 2022
Standorte mit Objekten
Biografische Daten

Der 1877 in Stampa geborene Antonio Augusto Giacometti, der Vetter zweiten Grades von Giovanni Giacometti, verbringt nach der ersten Schulzeit im Bergell zwei Jahre in Zürich, wo er die Sekundarschule besucht. Nach der Kantonsschule in Chur absolviert Giacometti von 1894 bis 1897 die Zürcher Kunstgewerbeschule, wodurch er eine Ausbildung zum Zeichenlehrer auf der Stufe der Sekundar- und Mittelschule sowie der gewerblichen Fortbildungsschulen erhält. In der dortigen Bibliothek entdeckt er das kurze Zeit davor erschienene Werk «La plante et ses applications ornementales» von Eugène Grasset, der bereits seit 1871 in Paris weilt und zu jener Zeit als Lehrer an der École Guérin tätig ist. Grassets Farben und Ornamente beeindrucken den jungen Giacometti und bewegen ihn, 1897 nach Paris zu ziehen. Er besucht Kurse an der École Nationale des Arts Décoratifs und an der Académie Colarossi, ab Herbst des gleichen Jahres studiert er bei Grasset an der École normale d’enseignement du dessin. Grasset legt seinen Schwerpunkt als Vertreter des Jugendstils hauptsächlich auf die Vermittlung von Farbe, Form und der Linie als wesentliche Gestaltungsmerkmale.
Im Pariser Jardin des Plantes zerlegt Augusto Giacometti 1898 malerisch Schmetterlingsflügel, aus denen seine bekannten Abstraktionen entstehen. In der Folge zieht sich die abstrakte Kunst – auch auf das Medium Glas übertragen – wie eine Konstante durch sein künstlerisches Leben und Augusto Giacometti steigt zum Pionier der Abstraktion empor. Sein eigenes Verständnis dieser Kunstrichtung lässt ihn, streng und konsequent ausgehend von der Natur, die Wirklichkeit in Form und Farbe transformieren – was Giacometti selbst immer als den entscheidenden Unterschied zu anderen Vertretern der Abstraktion ansieht.

In Paris entstehen bereits ab 1897 die ersten Entwürfe für Scheiben, die noch fest in der Tradition des Jugendstils verankert sind. Ob diese tatsächlich ausgeführt wurden, ist nicht geklärt. Ebenfalls in Paris erhält er dank Grasset eine erste Gelegenheit, sich an der Gestaltung von grösseren Glasgemälden zu versuchen: Zusammen mit Raphaël Freida erarbeitet Giacometti für die Pariser Werkstatt von Félix Gaudin und die Entwürfe für vier Glasgemälde der Eglise nouvelle Saint-Honoré-d'Eylau. Diese Fenster zeigen etablierte, klassische Darstellungen, die noch nichts von der später folgenden Virtuosität der Farben erahnen lassen. Als die Fenster im Laufe des Jahres 1902 eingebaut werden, befindet sich Giacometti schon nicht mehr in der Metropole an der Seine.

Nach einem Aufenthalt im Sanatorium in Wald (Zürich) wegen seiner angegriffenen Lungen bricht Giacometti im Januar 1902 nach Florenz bzw. Fiesole auf. Fra Angelico und seine Kunst führen ihn in die Stadt der Toscana, die für die mittelalterlichen Kirchenfenster bekannt ist. Im Florentiner Dom und in der Kirche Orsanmichele studiert er eingehend die alten Glasgemälde; deren enorme Leuchtkraft, farbliche Zusammensetzung und Kleinteiligkeit ihn stark beeindrucken. Von ebendiesen Fenstern lässt er abstrakte Variationen entstehen, also die Transformation von mittelalterlicher Form und Farbe hin zu etwas Neuem.
Bis 1907 bleibt Giacometti in Fiesole, danach bezieht er ein Atelier im Zentrum von Florenz. Ebenfalls 1907 beginnt er eine Tätigkeit als Lehrer an der privaten Accademia Internazionale di Belle Arti in Florenz von Josef Zbinden. Die Sommermonate verbringt er jeweils im heimischen Stampa, wo er viele grossformatige Werke schafft. Während der Florentiner Jahre beginnt Giacomettis Ausstellungsbeteiligung und er erhält die ersten grösseren Aufträge.
Weil Italien 1915 in den Krieg gegen die Mittelmächte eintritt, muss er Florenz nach 13 Jahren verlassen. Giacometti kehrt in die Schweiz zurück und zieht an die Rämistrasse 5 in Zürich. Ab 1915 beginnt die Zeit der bedeutenden öffentlichen Aufträge, die Glasgemälde sind ein Teil davon. Nachdem Giacometti 1917 mit der Kirche Langwies in Arosa die ersten Entwürfe für grössere Glasgemälde erstellt (die jedoch nicht ausgeführt werden), werden 1919 die Fenster im Langhaus der St. Martinskirche in Chur und einer Privatkapelle in Basel realisiert.
Augusto Giacometti beteiligt sich zwar 1918 an einer Dadaisten-Aufführung, dies ist aber eine Ausnahme, da er ansonsten künstlerisch einen solitären Pfad einschlägt.
Zu den grösseren, öffentlichen Werken gehören beispielsweise die heute noch bekannte «Giacometti-Halle» im Eingang der Polizeiwache im Zürcher Amtshaus I, die er von 1923 bis 1925 realisiert, oder das 1933 als Fresko entstandene monumentale Wandgemälde der Börse in Zürich. 1933 hält Augusto Giacometti im Radiostudio Fluntern den Rundfunkvortrag «Die Farbe und ich», der für Aufsehen sorgt.
1934 wird er in die Eidgenössische Kunstkommission und 1939 zu deren Präsident gewählt. Dieses Amt wird er bis zu seinem Tod inne haben. Dies zeugt für sein grosses Ansehen und die Anerkennung, die Giacometti in der Öffentlichkeit geniesst. Sein Werk erfährt damit bereits zu Lebzeiten eine schweizweite Würdigung.
In diesen Jahren begibt sich Giacometti häufig auf Reisen, seine Ziele sind die Städte München, Berlin, Sassnitz, Trelleborg, Oslo, Kopenhagen, Hamburg, Amsterdam, London sowie die Länder Tunesien und Algerien. Zahlreiche Werke entstehen unterwegs und während dieser Aufenthalte.
1937 würdigt das Kunsthaus Zürich Giacometti mit einer Ausstellung zu seinem 60. Geburtstag.
Sein letztes Glasgemälde entsteht 1945: «Das Paradies» im Zürcher Fraumünster. Es reiht sich mit seiner Farbenpracht und Strahlkraft ein in eine Reihe aus bedeutenden Glasgemälde des «Maestro dei colori», wie er sich selbst nennt. 1947 stirbt Giacometti mit 70 Jahren in Zürich.

Durch sein glasmalerisches Œuvre hindurch fallen immer wieder einige Charakteristika ins Auge: Im Gegensatz zu vielen seiner direkten Vorgänger oder Zeitgenossen malt Giacometti nicht auf grosse Glasflächen, sondern verwendet Glasstücke unterschiedlicher Grösse und Farbe. Diese ergeben zusammen mit den sie umgebenden Bleiruten ein grafisch wirkendes Gefüge, das vom starken Hell-Dunkel-Kontrast lebt. Die üblicherweise silbrig glänzenden Bleiruten werden für diesen Zweck noch zusätzlich mit schwarzer Farbe bemalt. Zudem «verbreitert» er oft diese schwarze und die bunten Farbstücke trennenden Bleiruten, indem er auf die bunten Glasstücke Schwarzlot (oft in Kaltbemalung, also nicht eingebrannt) aufträgt und damit gezielt einige Bereiche stark bis sehr stark abdunkelt. Durch diese Kontrastwirkung treten die nicht abgedunkelten Flächen stärker hervor und die durchscheinenden Farben des Fensters scheinen sich gegenseitig im Wettlauf um die stärkste Leuchtkraft übertrumpfen zu wollen.
Die Vorgehensweise Giacomettis, seine Fenster möglichst kleinteilig und kontrastreich zu gestalten, erinnert an mittelalterliche Kathedralfenster. Diese hat er beispielsweise in Frankreich und Italien gründlich studiert. Die gotischen Künstler konzentrierten sich oft auf die Farbenkombination Rot-Blau, was bei Giacometti ebenfalls häufig anzutreffen ist. Seine Rückbesinnung auf die Ursprünge der musivischen Kunst ist nicht nur eine Huldigung der mittelalterlichen Glaskunst, sondern ermöglicht ihm auch, eine einzigartige Wirkung im Gegenlicht zu entfalten.
Hervorzuheben ist, dass alle ausgeführten Fenster direkte Aufträge an den Künstler sind und er immer das Thema selbst wählen durfte.

Der Entwicklungsprozess eines Glasgemäldes vom Entwurf zum fertigen Werk aus Glas kann bei Giacometti sehr gut nachvollzogen werden. Die noch vorhandenen Entwürfe zeigen, dass er zunächst ausschliesslich eine ungefähre farbliche Gestaltung – ganz ohne Details wie beispielsweise Figuren – und in einem sehr kleinen Massstab erarbeitet hat. Aus diesen kleinen oder gar kleinsten Skizzen, die oft nur schemenhafte Farbflecken enthalten, entwickelt der Künstler immer grösser werdende Entwürfe mit jeweils mehr Details.
Alle Entwürfe Giacomettis nach der Zeit in Paris, die im Zusammenhang mit Glasgemälden entstanden sind (also auch seine Variationen bzw. Abstraktionen der mittelalterlichen Vorbilder), sind mit Pastellkreide auf dunklem Papier gemalt. Der dunkle Malgrund imitiert den abgedunkelten Innenraum und die schwarzen Bleiruten: Er lässt die aufgebrachten Pastellkreiden ebenso leuchten, wie es die bunten Glasstücke im fertigen Fenster tun.

Die Abstraktion erhält bei Giacometti mehrfach Einzug in sein Werk aus Glas: Die beiden Fenster der Basler Privatkapelle mit dem Titel «Das Licht» (1919) beziehen sich einerseits selbstreferenziell auf das Medium des Glases, aber auch auf eine religiöse Lichtsymbolik. Das Südfenster der Kirche St. Johann in Davos (1928), das gänzlich die Sprache der organischen Abstraktion spricht und einen bunten Farbenteppich zeigt, ergänzt die drei anderen figürlich gestalteten Chorfenster des «Paradieses». 1930 folgt dann mit dem unteren Teil des Chorfensters für die Evangelische Stadtkirche Frauenfeld ein drittes Werk seines glasmalereischen Œuvres, das immerhin zu vier Zehnteln aus nicht-figürlichen Darstellungen besteht.

Die Bedeutung von Augusto Giacometti bezüglich seiner Werke in Glas ist insbesondere deshalb hervorzuheben, weil er für die künstlerische Entwicklung in der Schweizer Glasmalerei in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wegweisend ist. Er gilt bereits zu Lebzeiten als Erneuerer der Glaskunst und sorgt beständig dafür, dass das «Malen mit Glas» in das zeitgenössische Kunstschaffen integriert und daher im allgemeinen kunsthistorischen Diskurs präsent ist sowie als ebenbürtig zu anderen Kunstgattungen betrachtet wird.

Insgesamt stattet Giacometti 15 Kirchen mit Buntglasfenstern aus:

  • Kirche St. Martin in Chur: drei Fenster im Langhaus; «Verkündigung an die Hirten», «Christi Geburt» und «Die Weisen aus dem Morgenland», 1919

  • Reformierte Kirche Küblis: drei Chorfenster; «Die Zwölf Apostel», 1921

  • Reformierte Kirche Kilchberg: drei Fenster in der Vorhalle; «Petrus und Malchus», «Christus am Ölberg», «Der Judaskuss», 1923

  • Stadtkirche Winterthur: drei Chorfenster; «Die Bergpredigt», 1923

  • Kirche St. Jakob in Klosters: drei Chorfenster; «Der Jakobstraum», 1928

  • Kirche St. Johann in Davos: vier Chorfenster; «Das Paradies», 1928

  • Evangelische Stadtkirche Frauenfeld: ein Chorfenster; «Das Leben Christi», 1929

  • Kirche San Luzi und Florin in Zouz: zwei Chorfenster; «La Spraunza», 1930; «La Charited», 1933

  • Grossmünster Zürich: drei Chorfenster; «Die Geburt Christi», 1933

  • Pauluskirche Zürich: ein Chorfenster; «Glaube, Liebe, Hoffnung», 1933

  • Kirche San Giorgio in Borgonovo/Stampa: ein Lünettenfenster im Chor; «Christi Einzug in Jerusalem», 1935

  • Reformierte Kirche Adelboden: drei Chorfenster; «Gethsemane», 1936; zwei ornamentale Seitenfenster, 1938

  • Reformierte Kirche Thayngen: ein Chorfenster; «Der gute Hirte und der Weingärtner», 1938

  • Wasserkirche Zürich: drei Chorfenster; «Das Leben Christi und unser Leben», 1943

  • Fraumünster Zürich: Fenster im nördlichen Querschiff; «Das himmlische Paradies», 1945

Er fertigt für die Katholische Pfarrkirche in Gossau (1926) und die Evangelisch-reformierte Kirche Rüschlikon (1927) ebenfalls Entwürfe an, diese werden jedoch nicht ausgeführt.
Für die Kirche St. Martin in Chur entwirft der Künstler im Jahre 1920 – und offensichtlich ohne je einen Auftrag erhalten zu haben – ebenfalls drei neue Chorfenster (die jedoch ebenfalls nie ausgeführt werden), nachdem er bereits im Jahr davor die drei Langhausfenster gestaltet hat.

Zu den ausgeführten Werken gehören, neben den Glasgemälden für die erwähnten 15 Kirchen, auch Fenster für eine Basler Privatkapelle (zwei Fenster: «Das Licht», 1919), für das Trauzimmer des Stadthauses in Zürich (sechs Fenster: «Die Trauung der Maria», 1924),
für die Garderobe des Ständeratssaales im Bundeshaus Bern (ein Fenster: «Die Arbeit auf dem Lande», 1931; heute ausgestellt im Vitromusée Romont) sowie für das Rathaus Bern (ein vierteiliges Fenster: «Die Vier Tageszeiten», 1943) sowie eine unbekannte Anzahl an Privataufträgen.

Literatur

Giacometti, A. (1943). Von Stampa bis Florenz: Blätter der Erinnerung. Rascher

Giacometti, A. (1948). Von Florenz bis Zürich: Blätter der Erinnerung. Rascher

Stutzer, B. & Windhöfel, L. (1991). Augusto Giacometti. Leben und Werk. Verlag Bündner Monatsblatt

Stutzer, B. (Hrsg.). (2003). Augusto Giacometti: Wege zur Abstraktion. Scheidegger & Spiess

Giacometti, M. (Hrsg.). (2014). Die Giacomettis: eine Künstlerdynastie. Salm

Frehner, M. (Hrsg.). (2014). Augusto Giacometti – Die Farbe und ich. Wienand Verlag

Kesser, C. (2020). Immer nur das Paradies: Augusto Giacometti – die Tagebücher 1932-1937. Scheidegger & Spiess

Giacometti, M. (2022). Augusto Giacometti: In einem förmlichen Farbentaumel. Scheidegger & Spiess